Patient: Kleintiermedizin in der Schweiz (2. Teil)

Dr. med. vet. P. Müller • December 1, 2025

Patient: Kleintiermedizin in der Schweiz - Teil 2: Die Nachfolgelösung / Praxis-Ketten


Zum Jahresabschluss behandelt dieser zweite Teil "Patient: Kleintiermedizin in der Schweiz" ein schwer verdauliches und trockenes Thema - die Nachfolgelösung einer Praxis.


1: Die Problemstellung

Wie im ersten Teil des Fallberichts "Kleintiermedizin in der Schweiz" erörtert, leidet die Tiermedizin unter einem ausgeprägten Fachkräftemangel. Neben den alltäglichen Problemen sorgt dieser Umstand auch dann für Schwierigkeiten, wenn die Inhaberschaft einer Kleintierpraxis in den Ruhestand gehen möchte.

In der Vergangenheit war eine Kleintierpraxis ein Unternehmen, welches als Einzelfirma, GmbH oder AG einer oder mehreren Personen gehörte, welche in der Praxis arbeiteten und diese führten. Die "Wachablösung" bei Pensionierung der Inhaberschaft fand meist innerhalb des Teams statt (d.h. ein/e jüngere/r Kolleg/in aus dem Team übernimmt die Praxis und führt den Betrieb weiter), alternativ wurde die Praxis an eine Person übergeben, welche sich selbständig machen wollte und keine eigene Praxis gründen wollte.

Die Übernahme einer Praxis durch eine/n jüngere/n Mitarbeiter/in bietet gegenüber der Neugründung eines Betriebes viele Vorteile - Belegschaft und Kundenstamm sind schon vorhanden, Infrastruktur und Arbeitsabläufe sind erprobt und funktionierend. Für die Kundschaft bietet diese Lösung den Vorteil, dass man längerfristig Kontinuität bei der Betreuung hat; viele Tierhalter/innen besuchen über mehrere Tiergenerationen hinweg dieselbe, bekannte und liebgewonnene Praxis mit idealerweise gleichbleibendem Personal.

Bis Anfang der 2000er-Jahre war dies der normale Gang der Dinge.


Inzwischen ist diese Übergabe in der Tiermedizin (wie zB auch bei den Hausärzten und Zahnarztpraxen) allerdings nicht mehr Routine. Im Gegenteil - viele ältere Kolleg/innen suchen über lange Zeit erfolglos nach einer Nachfolgelösung. Dies ist einerseits wohl teilweise dem Mangel an Tierärzt/innen in der Praxis zuzuschreiben. Andererseits scheint es, dass jüngere Kolleg/innen die unternehmerischen Schattenseiten des Selbständigerwerbens scheuen: Das finanzielle Risiko eines eigenen Betriebes, die Verantwortlichkeit für Angestellte und die administrative Belastung als Chef sind nicht zu unterschätzen. Praxisbesitzer/in ist man 24/7, 365 Tage im Jahr; Angestellte/r nur während der Arbeitszeiten. Probleme müssen entsprechend gelöst werden, wenn sie anfallen; das kann bedeuten, dass auch einmal der geplante Kinoabend ins Wasser fällt oder die gebuchten Ferien verschoben werden müssen. Diese Belastung ist gegenüber den Vorteilen einer Inhaberschaft für die jüngere Generation offensichtlich immer häufiger nicht mehr erstrebenswert. Und nicht zuletzt sind viele Praxen über die Jahre und Jahrzehnte gewachsen, was deren Erwerb gegenüber einem ein-Mann-Betrieb verteuert.


2: Lösungen des Nachfolgeproblems

Findet sich keine Nachfolgelösung für eine Praxis, muss diese entweder geschlossen werden (mit den entsprechenden Konsequenzen für die Belegschaft und die Tierhalter), oder sie wird an einen Käufer in Form einer Praxiskette verkauft.

Praxisketten sind Trägerschaften, welche etablierte Praxen unter einheitlichem, zentralem Management weiterführen. Die Trägerschaft setzt eine Geschäftsleitung ein, welche die Praxis mit zentraler Unterstützung führt. Die Belegschaft wird in aller Regel weiterbeschäftigt, weshalb ausser dem neuen Gesicht der Praxis (neuer Internetauftritt, neues Logo, einheitlicher Namen) für die Kundschaft vorerst wenig ändert. Durch die zentralisierte Verwaltung können gewisse Synergien genutzt werden (z.B. Preisnachlasse für Medikamente, weil diese in grossen Mengen zentral bestellt werden; koordinierte gemeinsame Weiterbildungen der Belegschaft; Einsatz von Spezialisten an verschiedenen Standorten der Kette etc).

In der Schweiz sind aktuell mehrere Tierarztketten etabliert, deren Standorte stetig mehr werden - aktuell sind knapp 100 Praxen Teil einer Kette. Teilweise handelt es sich um Schweizer Unternehmen, teilweise um internationale Strukturen, welche europaweit tätig sind. Einer grösseren Gruppe gehören beispielsweise europaweit mehr als 350 Tierkliniken und -praxen in 12 europäischen Ländern mit über 7000 Mitarbeiter/innen an. Die Kette ist Teil des US-amerikanischen Mars-Konzerns, welcher hauptsächlich in der Lebensmittel- und Tierfutterbranche (Royal Canin, Pedigree, Sheba etc) aktiv ist, 150'000 Personen beschäftigt und jährlich 500 Mrd USD Umsatz generiert.


3: Das Problem

Das Problem der Praxisketten wird erst auf den zweiten Blick ersichtlich.
Auch eine privat geführte Praxis ist darauf angewiesen, wirtschaftlich zu arbeiten - gutes Personal soll korrekt entlöhnt werden, die laufenden Kosten müssen gedeckt sein und die Infrastruktur muss auf dem neusten Stand gehalten werden. In den allermeisten Fällen ist das Ziel einer Tierarztpraxis aber nicht die Erwirtschaftung eines maximalen Profits - die Motivation der Arbeit ist hauptsächlich das Interesse daran, Tieren zu helfen und der wissenschaftliche Aspekt der Arbeit. In der Schweiz herrscht ein gesetzlich verordnetes offenes Preisgestaltungssystem - jede Praxis kann die Preise ihrer Leistungen nach Gutdünken festlegen. Von einigen schwarzen Schafen abgesehen ist die Preisgestaltung der Schweizer Tierarztpraxen aber realistisch und nicht auf maximalen Gewinn ausgelegt.

Anders verhält es sich bei den Praxisketten: Wie in vielen anderen Branchen fliesst hier sogenannte "Private Equity" ein: Ein Management (die Praxiskette) sammelt Kapital von institutionellen oder privaten Anlegern und kauft damit nicht-börsenkotierte Unternehmen (die Tierarztpraxis) ein. Das Ziel: den nun so zu Teilhabern der Praxis gewordenen Anlegern eine definierte Rendite zu erwirtschaften.


Die Konsequenz in den Worten eines deutschen Kollegen: "Praxen, die in letzter Instanz einer Private-Equity-Gesellschaft oder einem Multi gehören, müssen das gleiche Ziel erreichen (d.h. den Mitarbeiter/Innen ein Auskommen generieren), aber zusätzlich noch den Gewinn für die Investoren sicherstellen. Irgend jemand zieht da zwangsläufig den Kürzeren, und das sind mit Sicherheit nicht die Investoren."

Für das Personal der Praxis ändert sich ebenfalls vieles - nicht die im Betrieb arbeitende Chefin oder Chef steuert das Schiff in letzter Instanz und fällt die strategischen Entscheide, sondern eine Zentrale, welche nicht in die tägliche Arbeit vor Ort eingebunden ist.


In der Schweiz haben sich in den letzten Jahren die nicht nur positiven Folgen dieser Aufkäufe gezeigt - zum Teil verborgen von der Kundschaft der verkauften Praxis, zum Teil ganz offensichtlich: Im Zuge der Sicherung der Rendite werden Preise erhöht und die Kosten gestrafft. Wo früher z.B. aufgrund von einer zunehmenden Arbeitsbelastung neues Personal eingestellt wurde, wird dies mit Hinweis auf die Kosteneffizienz nicht mehr bewilligt.

In mehreren Fällen konnte sich das Personal der Praxis nach einiger Zeit nicht mehr mit dem fremdgeführten Unternehmen identifizieren, verliess den angestammten Betrieb und gründete eine neue Praxis oder Klinik. In vielen Fällen dürfte ein grosser Teil der Kundschaft dem über lange Zeit liebgewonnenem Team an den neuen Standort gefolgt sein.

Das diesbezügliche Worst-Case-Szenario ereignete sich vor einem Jahr nicht weit von Lyss: Eine Praxiskette musste eine kurz zuvor aufgekaufte Praxis schliessen, weil das angestammte Personal (und wohl auch ein Grossteil der Kundschaft) diese zugunsten einer Neugründung verliess.


4. Was nun?

Es bleibt zu hoffen, dass sich vermehrt junge Kolleg/innen für die Übernahme einer Praxis begeistern können. Dazu kann beitragen, dass sich die Kundschaft bewusst wird, dass eine inhabergeführte Praxis keine Selbstverständlichkeit ist und diese entsprechend wertschätzt.

Es scheint, dass die Strategie der Investmentgruppen im Schweizer Markt nicht wie gewünscht funktionieren und vollumfänglich akzeptiert werden, weshalb ein gewisses Umdenken innerhalb des Managements denkbar ist.


© Dr. med. vet. P. Müller / Lyssbachvet

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